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Wer trotzt hier?

Im Leben von Familien gibt es manchmal Situationen, wo sich einer auf den Boden wirft und jede Kooperation verweigert, worauf hin der andere entweder versucht, seinen Willen durchzusetzen oder aufgibt und sich abwendet.

Häufig sind es Kinder, die sich auf den Boden werfen und Erwachsene, Eltern, die sich durchsetzen oder abwenden:

Anna, 4 Jahre, soll sich umziehen und in 5 Minuten fertig sein, damit die Familie gemeinsam frühstücken kann und alle rechtzeitig aus dem Haus kommen. Stattdessen sitzt Anna friedlich auf dem Fußboden und spielt mit ihrem Kuschelhund. Ihre Mutter kommt ins Zimmer und ärgert sich, dass Anna ihre Aufgabe nicht erledigt hat. Sie macht Anna Vorwürfe: „Du weisst doch, dass wir es morgens immer eilig haben, trödel nicht, zieh dich schnell an!“ Mit diesen Worten zieht sie Annas Pyjama-Oberteil über ihren Kopf und will rasch auch die Hose ausziehen. Anna hält die Hose fest und schreit „Lass mich, selber!“ Woraufhin ihre Mutter entgegnet: „Du hattest lange genug Zeit, jetzt mach ich das, sonst wirst du ja nie fertig!“ Anna wirft sich auf den Boden, strampelt und weint heftig. Ihre Mutter hat nun die Wahl: entweder sie hält Anna fest und zieht sie gegen Annas Widerstand an oder sie verlässt das Zimmer und lässt Anna weinend alleine zurück. Beides passt nicht zu ihrer Vorstellung von harmonischem Familienleben. Innerlich gibt sie Anna die Schuld: „Warum kann sich dieses Kind nie pünktlich anziehen?!“

Ein fiktives Beispiel, jegliche Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist Zufall

Meistens wird die Situation mehr schlecht als recht gelöst und hinterher sind alle Beteiligten unglücklich:

  • Eltern sind unglücklich, weil sie mit ihrem Kind nie so autoritär und fast schon gewaltsam umgehen wollten
  • Kinder sind unglücklich, weil sie sich unverstanden fühlen und weil sie sich gezwungen fühlen, bei etwas mitzumachen, das sie in ihrem innersten ablehnen

Die Verantwortung liegt bei den Eltern

Die Verantwortung für die Qualität der Beziehung tragen die Erwachsenen, sagt Jesper Juul.

Nur wenn die Eltern ihr Verhalten in einer derartigen Situation ändern, kann eine neue, bessere Lösungfür alle Beteiligten gefunden werden.

Wie Eltern Gewohnheiten in der Familie ändern können

Zunächst müssen sich die Eltern bewusst werden, dass in diesen Situationen etwas geschieht, was nicht zu ihrer Vorstellung von gelingendem Familienleben passt. Der nächste Schritt erfordert die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu überdenken und zu verändern.

Dann erst ist es sinnvoll, sich die Trotz-Situationen der vergangenen Tage vor das innere Auge zu führen und dabei zu fragen:

  • Welche Erwartung hatte ich (an mein Kind)?
  • Welche Erwartung hatte vermutlich mein Kind?
  • Was hinderte mich daran, auf die Erwartungen meines Kindes einzugehen?

Auf die Erwartungen des Kindes eingehen

Wenn Eltern die Erwartung ihres Kindes übergehen, so hoffen manche insgeheim, dass ihr Kind bereitwillig seine eigenen Erwartungen hinter die der Eltern stellt. In vielen Situationen mag das auch so sein. Aber

  • ist das eine gute Vorbereitung auf das Leben, das unsere Kinder als Erwachsene führen werden? Wollen wir, dass sie zukünftig „immer wieder“ ihre Erwartungen anderen unterordnen?
  • Oder könnten wir es wagen, die Erwartungen des Kindes wenigstens anzuerkennen, auch wenn wir sie nicht erfüllen wollen?
  • Wird dann der Protest nicht umso größer?

Gefühle in Worte fassen

Kinder fühlen sich verstanden, wenn Eltern Worte finden für die Gefühle, die ihre Kinder zum Ausdruck bringen. Dazu ist es hilfreich, wenn Eltern vorübergehend die Perspektive des Kindes einnehmen:

  • Wie geht es Anna, wenn sie morgens nach dem Aufstehen mit ihrem Kuschelhund spielt?
  • Wie geht es ihr, wenn ich hereinplatze und sie mit Vorwürfen überschütte?
  • Wie geht es ihr, wenn ich sie rasch ausziehe?
  • Wenn ich einmal im Alter Hilfe bei Alltagsverrichtungen brauche, will ich so behandelt werden?

Wenn wir mit Worten die Gefühle beschreiben, die wir an unserem Kind wahrnehmen, gibt es keine Garantie, dass wir richtig liegen. Aber unser Kind erlebt: Mama versucht, mich zu verstehen. Papa meint, ich sei wütend, wenn ich so strample. Das kann dann ungefähr so klingen „Anna, du liegst auf dem Boden und strampelst und weinst. Mir scheint, du bist richtig sauer, weil ich dich rasch ausgezogen habe.“

Je früher wir Worte finden für die unangenehmen Gefühle unseres Kindes, desto weniger heftig muss es uns diese Gefühle zeigen. Je heftiger der Gefühlsausbruch ist, desto mehr Variationen des Verständnisses sind möglicherweise notwendig, bis das Kind sich verstanden fühlt.

Wut, Trauer, Zorn, Enttäuschung, Frust annehmen

Wenn wir Wut, Trauer, Zorn, Enttäuschung, Frust und ähnliche Gefühle beim Namen nennen, erlebt unser Kind, dass auch diese unangenehmen Gefühle ihren Platz im Leben haben. Sie dürfen sein. Nun muss es jedoch einen Weg finden, die Gefühle auszudrücken, ohne sich selbst, andere oder Gegenstände dabei zu gefährden.

Mit dem Hinweis „Ich erlaube dir nicht, nach mit zu treten“ kann ich einen Schritt zurück gehen und meine persönliche Grenze deutlich machen. Wenn ich sage: „Hier hast du ein festes Kissen, darauf kannst du treten“ zeige ich meinem Kind eine Möglichkeit, seinen Gefühlen Luft zu machen, die für alle Beteiligten erträglich ist.

Nun ist es bereit, die Liebe anzunehmen, die wir ihm zeigen wollen.

Eltern dürfen ihre Liebe in liebevollem Verhalten zeigen

Wenn wir sehen, dass Anna sich morgens nicht alleine anzieht, und davon ausgehen, dass es schneller geht, wenn wir sie beim Umziehen begleiten, dann lohnt es sich, diese Begleitung in den Tagesablauf einzuplanen. Vielleicht müssen wir das Wecken vorverlegen, oder selbst früher aufstehen. Möglicherweise können wir den Tisch schon am Vorabend decken und so Zeit für das gemeinsame Umziehen gewinnen.

Wichtig ist, dass wir diese Entscheidung in einem ruhigen Moment treffen, vielleicht wenn wir mit unserem Partner über den Tag sprechen und feststellen, dass schon wieder eine Situation entstand, in der wir nicht so friedlich mit unserem Kind zusammen sein konnten wie wir uns das wünschen.

Gut ist, wenn wir unser neues Verhalten ankündigen: „Morgen früh werde ich dich beim Umziehen begleiten“. Und dann tun wir das, liebevoll, zugewandt, in Ruhe und so freundlich, wie wir mit unserem Kind immer umgehen wollten.

Wenn Eltern der Kragen platzt

Wenn uns Eltern der Kragen platzt, wird die Situation für unsere Kinder emotional sehr bedrohlich: Unsere Beziehung ist für sie lebensnotwendig, und wenn wir sie im Zorn kündigen – und wenn auch nur für eine kurze Zeit – sind unsere Kinder existenziell gefährdet.

Können wir einen Ball in einen Korb werfen, anstatt unser Kind anzubrüllen?

Gelingt es uns, zu einem bereitliegenden Blatt Papier zu gehen, einen Stift zu nehmen und aufzuschreiben, worüber wir uns gerade so aufregen? „Das muss ich jetzt aufschreiben“ genügt als Erklärung für unser Kind.

Wenn wir schon am Schreiben sind, wäre es möglich, neben unsere Gefühle auch die vermuteten Gefühle unseres Kindes zu schreiben?

Dann könnten wir uns im nächsten Schritt wieder dem Kind zuwenden und fragen, ob wir richtig vermuten: „Du bist vermutlich überrascht, weil ich nicht wie sonst gebrüllt habe, sondern etwas aufgeschrieben habe. Ich möchte nicht mehr brüllen. Ich möchte mit Dir freundlich umgehen. Manchmal fällt mir das schwer, und das Aufschreiben hilft mir dabei.“

Und als nächstes können wir mit unserem Kind auf der sachlichen Ebene sprechen: „Es ist Zeit, dass Du angezogen zum Frühstück kommst. Soll ich Dir die Hose anziehen, oder möchtest Du das jetzt selbst machen?“

Es gibt Kinder, die beide Alternativen ablehnen. Hier können wir eine weitere Option anbieten: „Dann ist zuerst der Pullover dran. Entweder Hose oder Pullover, eines von beiden, und zwar jetzt. Entscheide dich.“

Kinder wollen mitwirken

Kinder wollen bei allem, was sie betrifft, mitwirken. Das beginnt schon sehr früh: Wenige Wochen nach der Geburt strecken sie ihren Arm, wenn wir ihnen ein Jäckchen überstreifen. Sie strecken ein Bein, wenn wir ihm seine Hose zeigen.

Je älter die Kinder werden, desto mehr wollen sie selbständig versuchen. Socken ausziehen! Anfangs muss ich ihm vielleicht noch bis über die Ferse helfen, bald kann mein Kind das ganz alleine.

Jacke zuknöpfen. Reißverschluss schließen. Schuhe zubinden. Einkaufen. Backen, kochen…. Die Reihe lässt sich fortsetzen bis die Kinder schließlich ihre eigene Krankenversicherung wählen.

Wir Eltern tun gut daran, Kindern den zeitlichen und realen Freiraum zu schaffen, damit sie sich darin üben können, mitzuwirken. Wir können unsere Liebe dadurch zeigen, dass wir aufmerksam dabei bleiben, wenn sich unser Kind bemüht, seine Jacke zu schließen. Wir dürfen uns mit unserem Kind freuen über alles, was nach vielem Probieren und Üben schließlich gelingt, und wir sind da, wenn es Trost braucht, weil etwas noch nicht klappt.

So kann ein friedliches, freudiges Zusammenleben in der Familie gelingen.

Wegweiser in der Trotzphase

Der Wegweiser Trotzphase vom Familienspielraum kann dich auf diesem Weg gut begleiten.

Elternstammtisch

Wenn du dich mit anderen Eltern und Pädagoginnen beraten möchtest und einen Strauß konkreter Handlungsalternativen suchst, komm doch zum nächsten Elternstammtisch.

Von Heidi, Spielraum Leiterin

Spielraum Leiterin nach Pikler seit 2006 für Eltern mit Kindern von 0 bis 10 Jahren
Fortbildungen für Erzieher*innen: Einführung in die Pikler- und Hengstenberg-Pädagogik seit 2014